„Das bißchen Exegese, das wir brauchen, machen wir uns selber.“
Unter diesem Motto, so will es die mündliche Überlieferung, fanden sich 1977/78 einige Menschen aus dem Dunstkreis der Evangelischen Studentengemeinde zusammen, die ihr Unbehagen über die im exegetischen Wissenschaftsbetrieb auch damals schon vorherrschende Langeweile in produktive Bahnen lenken wollten: Es entstand die Zeitschrift TEXTE UND KONTEXTE. Seitdem geht es in dieser Zeitschrift vor allem um eines: um biblische Theologie, also die „systematische Reflexion der Texte, in denen Gottes Wort für uns geredet wird“ (Vorwort des 1. Heftes 1978).
- Die Zeitschrift versteht sich in der Tradition der Bekennenden Kirche. Insbesondere im Umfeld Karl Barths, aber auch Dietrich Bonhoeffers ist zu erkennen, wie – in einer bestimmten Phase der deutschen Geschichte – die Verbindung vom Hören auf das Wort der Bibel mit einem politischen Handeln aussehen konnte. Ihre widerständige Praxis erweist sich, unter gewandelten Umständen, auch heute noch als bedeutsam.
- Bei ihrem exegetischen Vorgehen knüpft die Zeitschrift an die „Amsterdamer Schule“ an, die sich um Kornelis Heiko Miskotte und Frans Breukelman gebildet hatte. In der Arbeit der „Amsterdamer“ waren grundlegende Erkenntnisse der jüdischen Bibelübersetzer und -ausleger Martin Buber und Franz Rosenzweig auf christlicher Seite erstmals zur Geltung gebracht worden. Eine Brücke für das Verständnis bildete dabei das (reformatorische wie rabbinische) Prinzip „Die Schrift interpretiert sich selber“. Zugleich zeigte sich hier aber auch: Exegese ist eine aufregende Sache, und sie macht Spaß!
- Neben dem Wort-Gottes-Charakter der Schrift soll ihre menschliche Seite nicht zu kurz kommen. TEXTE UND KONTEXTE legt die Schrift deshalb auf dem Hintergrund der Gesellschaftsverhältnisse aus, innerhalb derer sie entstanden ist. Bei der hier nötigen Analyse erwies sich eine Orientierung an Karl Marx (samt einigen Weiterentwicklungen; etwa im französischen Strukturalismus) als hilfreich.
- Auch der Kontext der heute Auslegenden spielt für TEXTE UND KONTEXTE eine wichtige Rolle. Deshalb sind hier auch mehrfach schon exegetische Ansätze zu Wort gekommen, die der Befreiungstheologie nahestehen. Im Zeichen eines weltweit agieren den Kapitalismus verdeutlichen sie eine Seite unserer Lebenswirklichkeit, die bei einer mitteleuropäischen Betrachtungsweise leicht zu kurz kommt.
Ergebnis des Zugangs von TEXTE UND KONTEXTE ist oft genug, daß die scheinbar vertrauten Texte der Bibel wieder fremder werden – und das ist gut so. In den Texten der Schrift mag „Gottes Wort für uns geredet“ werden – hören und verstehen können wir es nur, wenn wir begreifen, daß es zunächst einmal nicht zu uns geredet wird. Die Bibel ist das Produkt einer vorderorientalischen Gesellschaft vor zwei Jahrtausenden, sie ist Ausdruck bestimmter Unterdrückungserfahrungen und Ausdruck eines bestimmten Protestes gegen diese Unterdrückung. Ihre historische Einmaligkeit zu verleugnen hieße, den Texten jeden, aber auch jeden Stachel zu nehmen.
Die Schrift meint (auch) uns, insofern wir uns ihrem Anspruch nicht entziehen können, aber sie gehört uns nicht – dieser Satz ist zu bedenken insbesondere angesichts des Judentums. Auf diesen Kontext der Schrift, der nicht der unsere ist, wird in TEXTE UND KONTEXTE dadurch verwiesen, daß von Fall zu Fall jüdische Stimmen zum Text, speziell auf der Welt des Midrasch, zu Gehör gebracht werden. Inzwischen liegen fast 45 Jahrgänge TEXTE UND KONTEXTE vor, und das „bißchen Exegese“, das in ihr getrieben werden sollte, hat im Laufe der Zeit nicht nur einen erheblichen Umfang erreicht, sondern – so steht zu hoffen – auch zu ansehnlichen Resultaten geführt.